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„Ich meine immer noch, dass wir kostbare Zeit und Chancen verschenken, wenn wir einen Erkundungstrip bei Tag nicht wenigstens in Erwägung ziehen.“ Nikolais Gefährtin Renata schwang sich von der Ausgabetheke des Waffenraums und begann, in ihren Kampfstiefeln und ihrem schwarzen Tarnanzug auf und ab zu gehen. Sie hatte das Band gelöst, das ihr kinnlanges schwarzes Haar während der Patrouille zurückgehalten hatte, und nun schwang es ihr ums Gesicht, während sie zum zweiten Mal ihre Argumente vorbrachte. „Also wirklich, Jungs. Wenn es bei diesem Macho- Widerstand, den ihr hier eben an den Tag legt, nur um unsere Sicherheit geht, könnt ihr euch das schenken. Das Schlimmste, was uns tagsüber passieren kann, ist, dass wir mit Lakaien zusammenstoßen. Und den von euch will ich sehen, der behauptet, dass ich mit so einem Gehirnkrüppel nicht im Schlaf fertig werde. Sogar mit einer Hand hinterm Rücken festgebunden.“
Niko grinste sie an. „Da ist was dran, Lucan. Wir reden nicht über eine Kampfsituation, wir schicken sie nur los, um Informationen zu sammeln und uns durchzugeben, damit wir anrücken können.“
Lucan grunzte und schaute finster unter seinen dunklen Brauen hervor. „Das gefällt mir nicht.“
„Mir auch nicht“, warf Rio ein. „Aber ich weiß, dass Dylan bei Renata sicher ist. Wenn die Frauen dazu bereit sind, sollten wir sie helfen lassen. Du hast es doch selbst gesagt, Lucan: Gerade jetzt brauchen wir alle Mann an Deck.“
Reichen saß etwas abseits und hörte schweigend zu. Er verkniff sich seine eigene Ansicht, die im Wesentlichen lautete, dass ihm alles recht war, was der Orden beschloss, solange sie nur Claire außen vor ließen.
Zu seinem Pech hatte Claire jedoch andere Pläne.
Er spürte sie in der Türöffnung des Raums, noch bevor er sie tatsächlich sah. Die Sogkraft seiner Verbindung zu ihr zog seinen Kopf in ihre Richtung, als wäre er mit ihr verkabelt. Sie kam mit Dantes Gefährtin herein; die beiden gingen in den hinteren Teil des Raums, während die Diskussion zwischen Lucan und Renata weiterging.
„Denk doch mal nach, Lucan. Wenn wir tagsüber arbeiten, verschafft uns das einen Vorsprung von acht bis zehn Stunden“, sagte sie. „Acht bis zehn Stunden näher an Roth könnten ein entscheidender Vorteil sein, um näher an Dragos ranzukommen.
Sollte der Rückzug, den wir heute Nacht in Boston beobachtet haben, ein Indikator dafür sein, dass sie aufgeschreckt und abgehauen sind, haben wir ohnehin keine Zeit zu verlieren.“
Mehrere Köpfe nickten zustimmend.
„Und wenn der Rückzug ein Indikator für etwas ganz anderes ist?“, fragte Lucan grimmig. „Wenn sie sich so plötzlich aus Boston zurückgezogen haben, nicht weil sie Angst haben, entdeckt zu werden, sondern weil sie eine größere Sache planen?“
„Wir sollten unbedingt davon ausgehen, dass es sich hier weniger um Furcht als um Taktik handelt.“
Claires Stimme zog die gesammelte Aufmerksamkeit in den hinteren Teil des Waffenraums. Sie musterte die Gruppe, am längsten verweilte ihr Blick auf Reichen. Sie sah beunruhigt aus, und er konnte die Sorge spüren, die ihr das Herz schwer machte. „Ich kenne Dragos nicht, aber Wilhelm Roth dafür umso besser. Er agiert niemals aus einer Position der Furcht heraus. Weil er sich für unbesiegbar hält und für klüger als alle anderen. Wo immer er ist, er hat einen Alternativplan und wird härter zuschlagen als je zuvor.“
„Ein Grund mehr, jeden Vorteil zu nutzen, der sich uns bietet, um ihn aufzuspüren“, sekundierte Rio.
Lucans Blick wanderte von Claire über Renata zu Dylan, den drei Gefährtinnen, die den Tageseinsatz durchführen wollten. „Dann seid ihr euch also einig?
Ihr wollt das tun?“
„Ja“, antworteten sie einstimmig.
Er dachte eine Weile nach, dann nickte er ernst.
„Also schön. Gideon erstellt euch ein Raster für das Gebiet, in dem ihr am besten mit der Suchaktion beginnt. Wir treffen uns später noch einmal zu einer letzten Besprechung im Techniklabor, bevor ihr loszieht.“
Unter zustimmendem Gemurmel begann die Versammlung sich aufzulösen. Reichen ging auf Claire zu, doch bevor er sie erreichen und ihr das Dutzend unterschiedlicher Entschuldigungen präsentieren konnte, die er sich seit ihrem letzten Auseinandergehen zurechtgelegt hatte, hatten Renata und Dylan sie bereits in ein Gespräch verwickelt.
Sie streifte ihn im Vorübergehen nur mit einem kurzen Blick, dessen Botschaft allerdings eindeutig war: Er hatte zu dem, was sie vorhatte, nichts zu sagen. Er hatte sich geweigert, ihr etwas zu versprechen, das er nicht halten konnte, und nun zahlte sie es ihm doppelt und dreifach heim. Diese Quittung schmeckte bitter wie die Hölle.
Claire wandte ihm den Rücken zu und setzte mit ihren beiden Gefährtinnen die Besprechung ihrer Tagesmission fort. Diese Mission lag Reichen wie ein Eisbrocken im Magen.
Als die Sonne aufging, hatte sich Claires Enttäuschung über Andreas längst gelegt. Sie verstand seine Sorge und seinen Zorn. Es war dumm von ihr gewesen, zu glauben, dass Roth mit sich handeln ließ. Und noch dümmer, dass sie geglaubt hatte, es je ertragen zu können, als seine Gefährtin zu ihm zurückzukehren. Dennoch hätte sie es getan. Für Andreas' Unversehrtheit hätte sie alles getan.
Besonders nach der Vision seines Feuertodes, die sie gesehen hatte.
Alles, was gezählt hatte, war ihr Bedürfnis gewesen, ihn festzuhalten. Deshalb hatte sie ihn gebeten, das Projekt, seine Familie zu rächen, aufzugeben, und ihn stattdessen angefleht, den Kampf gegen Roth und Dragos dem Orden zu überlassen. Es war ein Moment heftiger und egoistischer Verzweiflung gewesen, der sie allem gegenüber blind gemacht hatte außer ihrer Liebe zu ihm. Alles, was gezählt hatte, war ihr Bedürfnis gewesen, ihn in ihrer Nähe zu behalten, damit ihn nichts und niemand ihr noch einmal wegnehmen konnte.
Doch als Claire sich an diesem Morgen darauf vorbereitete, mit Dylan und Renata das Hauptquartier zu verlassen, war ihr klar geworden, dass sie zu viel von ihm verlangt hatte. Im Techniklabor, wo sich alle versammelt hatten, beobachtete sie aus dem Hintergrund, wie Rio und Nikolai, die Gefährten der beiden, einige letzte ruhige Minuten mit ihren Frauen verbrachten, ihnen Zärtlichkeiten ins Ohr flüsterten und sie eng umschlungen hielten.
Als sie Zeugin dieser zärtlichen Verabschiedungen und langen Umarmungen der beiden Paare wurde, die sich für diesen Tag voneinander trennten, überkam Claire ein Anflug brennender Scham darüber, was sie von Andreas verlangt hatte. Ihre Liebe war nicht heiliger als das, was sie hier sah. Ihrer beider Sicherheit war nicht wichtiger als die aller anderen Krieger und ihrer Gefährtinnen.
Andreas hatte mit Recht abgelehnt, worum sie ihn gebeten hatte.
Das alles hätte Claire ihm auch gesagt, aber er war nicht gekommen, um sie zusammen mit dem restlichen Orden zu verabschieden. Stattdessen waren es Tess und Savannah, die sie kurz und herzlich umarmten, als Dylan, Renata und sie sich daranmachten, ihre Ausrüstung für die Tagesmission zusammenzustellen. Einen Augenblick später kamen Lucan und Gabrielle herüber, und der Anführer des Ordens nickte Claire düster zu, als seine Gefährtin sie kurz in den Arm nahm.
„Ich danke Ihnen, dass Sie bereit sind, uns beim Aufspüren von Roth zu helfen“, sagte er mit seiner tiefen, gebieterischen Stimme. „Ich erwarte nicht, dass es Ihnen leichtfällt. Noch haben Sie Zeit, Ihre Meinung zu ändern, wenn Sie also lieber nicht...“
„Nein“, unterbrach ihn Claire mit einem Kopfschütteln. „Ich will es. Und nach allem, was ich inzwischen über ihn weiß, muss ich es auch.“
Ein grimmiges Nicken war Lucans einzige Antwort.
Derweil bat Gideon um Aufmerksamkeit, um noch ein letztes Mal den von ihm erstellten Geländeplan durchzugehen, nach dem die Frauen sich richten sollten. Claire lauschte den Instruktionen, die sie in den Süden von Boston und nach Connecticut führen würden, wo sie mit einer Durchsuchung des Gebiets unweit der Grenze zum Bundesstaat New York beginnen würden; dort, so hatte sie erfahren, hatte Dragos einmal Dylans Gefährten Rio gegenübergestanden, hatte es allerdings geschafft zu entkommen. Von dort aus würde die Erkundungsmission so viel Gelände abdecken, wie bei Tageslicht möglich war, in der Hoffnung, dass Claires Blutsverbindung zu Roth irgendwo unterwegs eine brauchbare Spur erbrachte, die der Orden dann nach Einbruch der Dunkelheit weiterverfolgen wollte.
„Ich gebe jeder von euch ein GPS-Handy mit“, sagte Gideon jetzt und entfernte sich von der Karte, die er an die Wand geworfen hatte. Er holte die Geräte und verteilte sie an Claire, Dylan und Renata.
„Lasst sie immer eingeschaltet und tragt sie sicher am Körper. Wir werden eure Standorte und Bewegungen von hier aus überwachen, aber wir wollen, dass ihr euch mindestens stündlich meldet.
Sobald ihr auch nur einen Pulsschlag von Roth aufgefangen habt, ruft ihr sofort an. Sobald einer von euch auf dieser Mission irgendetwas komisch vorkommt oder ihr etwas seht - sofort anrufen. Und wenn ihr aus irgendeinem Grund mit dem Wagen anhaltet, und wenn auch nur für zwei Minuten Pinkelpause - ihr ruft an. Verstanden?“
Die drei nickten zustimmend, wenn auch Renata dabei in Richtung Claire und Dylan die Augen verdrehte. Unter ihrem wadenlangen Trenchcoat trug die schwarzhaarige Stammesgefährtin Stiefel mit dicken Gummisohlen, schwarze Jeans und einen schwarzen Rollkragenpulli - was durchaus als Straßenkleidung durchging, wenn man nicht zu genau auf die Ausbeulungen um ihre schmalen Hüften achtete. In den Ledergürteln, die sie trug, steckte nämlich ein kleines Arsenal an Messern und Pistolen in Scheiden und Holstern.
Dieser eindrucksvollen Waffensammlung fügte Nikolai noch ein weiteres Stück hinzu: ein übel aussehendes, langläufiges Gewehr, das ungefähr die Länge von Claires Arm hatte. Er gab es Renata und drückte ihr noch ein Magazin Munition in die Hand.
„Deine speziellen Titanhohlspitzengeschosse?“,
murmelte sie und strahlte ihn an, als hätte er ihr einen Strauß preisgekrönter Rosen überreicht.
Niko grinste, zwei Grübchen rahmten sein breites Lächeln ein. „,Ich liebe dich’ sagt sich einfach am besten mit spezialgefertigten Patronen.“
Renata küsste ihn und lachte, steckte das Magazin ein und hängte sich den Gewehrriemen sorgfältig über die Schulter. „Nicht nötig, aber süß. Danke, Schatz.“
„Diese Kugeln räuchern Rogues aus, aber sie töten nicht nur Vampire“, sagte Lucan. „Lakaien erledigen sie genauso gut. Zögere nicht, jederzeit zu schießen, wenn du das Gefühl hast, dass die Situation es verlangt.“
Renata nickte. „Glaub mir, was das angeht, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“ Sie warf Claire und Dylan einen Blick zu. „Geht's los, Mädels?
Dann lasst uns mal ein bisschen auf den Putz hauen.“
Claire ließ das Handy in die Tasche ihrer weiten Jeans gleiten und schloss sich dann den beiden anderen Frauen auf ihrem Weg zur automatischen Glastür des Techniklabors an. Sie konnte es nicht lassen, im Flur nach Andreas Ausschau zu halten.
Doch er war nicht da und würde auch nicht kommen.
Sie wusste nicht, ob sie ihn vertrieben oder schon vor ihrer fruchtlosen Auseinandersetzung vor einigen Stunden verloren hatte.
Nicht, dass es noch eine Rolle spielte.
Er war nicht da.
Er gehörte ihr nicht und würde es wohl auch nie.
Jetzt, dachte Claire, war ein ebenso guter Zeitpunkt wie jeder andere, um sich wieder einmal an diese Tatsache zu gewöhnen.